Geschichten

Alp-Traum

 

Ich freute mich immer Odette zu sehen – hatte aber auch ein wenig Angst vor ihr. Ich keuche während ich an sie denke. Ich habe es mir nicht so vorgestellt, als ich mich entschlossen habe sie zu besuchen. Odette ist meine Freundin, oder besser sie war meine Freundin. Das ist das Ziel meiner Reise: herauszufinden, ob sie immer noch meine Freundin ist. Odette zu besuchen ist beschwerlich, denn sie wohnt auf dem Berg. Ich habe die Berge noch nie geliebt. Nun habe ich beschlossen Odette zu besuchen und auf den Berg zu steigen. Den Wagen habe ich schon vor Stunden stehen lassen müssen. Mit einem Rucksack, der von Schritt zu Schritt schwerer wird, bewege ich mich im Schneckentempo bergwärts. Ich huste, Staub löst sich unter den trockenen Gesteinsbrocken gegen die meine schweren Füsse stossen. Der Weg scheint sich endlos in die Höhe zu schlängeln, nach jeder Kurve hoffe ich vergebens, endlich das Ziel zu sehen, stattdessen sehe ich nach jeder Kurve eine neue Kurve. „Du kannst den Weg nicht verfehlen“, schrieb mir Odette, „vom Parkplatz aus gehst du einfach den Weg entlang, etwa drei Stunden, dann kommst du auf ein fantastisches Hochplateau an dessen Ende der Berg sanft ansteigt. Dort auf der ersten Kuppe wirst du meine Hütte sehen.“

Ich schaue auf die Uhr, zwei Uhr mittags, ich bin seit zwei Stunden unterwegs. Ich überlege, ob ich etwas aus dem Rucksack entbehren könnte um Gewicht zu reduzieren. Ich setze einen Fuss vor den anderen, mechanisch schon, nur ja nicht stehen bleiben oder gar absitzen. Ich will ankommen bei Odette, die Füsse in den kühlen Brunnen halten und mich dann ins Heu legen – so stelle ich mir das vor. Morgen dann würde ich tapfer talwärts schreiten, um wieder in meine gewohnte Welt zurückzukehren. Dieser Gedanke beruhigt mich aufs Erste, ich schreite mit neuer Energie aus und werde belohnt: einige Minuten später steige ich über einige Felsbrocken um gleich darauf auf dem versprochenen Hochplateau zu stehen. Der Wind bläst mir in die Ohren und der Blick über die Weite der Fläche beruhigt mich. In der Ferne mache ich ein Strässchen aus, das bergwärts führt und wie von Odette versprochen, sehe ich einen dunklen Punkt nicht sehr weit oben. Das muss ihr Haus sein. Nun gönne ich mir einen Schluck aus der Thermosflasche und rauche eine Zigarette. Ausser Atem wie ich bin, steigt mir das Nikotin in den Kopf und ich muss mich setzen. Ich schaue den menschenleeren Weg zurück, den ich gekommen bin. Hoch über meinem Kopf kreisen ein paar Vögel, vielleicht Adler. In der Ferne kann ich Stromleitungen ausmachen und hoch am Himmel zieht ein Flugzeug seine weisse Spur. Das ist aber auch alles, was an die Zivilisation erinnert. Ich habe mir noch gar nicht überlegt, ob Odette Strom, Telefon, Fernseher oder auch nur Warmwasser hat. Falls nicht, kann ich später von Pfadfinderromantik und Abeteuer erzählen, auch gut. Langsam fröstle ich im frischen Wind und stehe auf. Der Rucksack schmerzt auf der Schulter und die Füsse fühlen sich im ersten Moment taub an. Was mag Odette bewogen haben hier her zu kommen? Ich habe Odette vor zwanzig Jahren an einer Demo in Zürich kennengelernt. Es war die Zeit der Freaks und des Haschrauchens. Man trug Grossvaters Hemden und hörte Rolling Stones. Ihre Liebe galt den Büchern, sie machte eine Lehre als Bibliothekarin und kannte alle Frauenbücher auswendig. Wir wurden rasch Freundinnen, trafen uns ständig, schliesslich zog sie zu mir. Wir reisten nach Paris und nach Genf, aber nie ans Meer und nie in die Berge. Später als mich mein Studium in eine andere Stadt führte, trennten sich unsere Wege. Die Besuche wurden spärlicher, die Telefonate hörten auf, nur die Karten zu Weihnachten und Geburtstag trafen regelmässig bei der anderen ein.

 

Ich bin ein gutes Stück vorangekommen, die Gedanken lenken mich ab, der Weg auf dem Plateau lässt sich leichter bezwingen als der Pfad bergwärts. Ich bin so in Gedanken, dass ich den See der sich linkerhand eisgrün ausbreitet kaum

wahrnehme. Erst als ich sein Ende, oder seinen Anfang erreiche, schreckt mich das Plätschern des Bergbaches, der sich in den See ergiesst auf. Ich schaue mich um und entdecke einen verwitterten Wegweiser, der nach Norden zeigt: Alp Sternblick. Das erste Zeichen, dass mein Ziel nicht mehr weit ist, denke ich und schreite nochmal tapfer aus. Der dunkle Punkt am Horizont hat sich unterdessen als Hütte erwiesen, aber von Odette ist noch nichts zu sehen. Es ist bald ein Jahr her, seit ich sie zuletzt getroffen habe. Nach dem wir uns aus den Augen verloren hatten, begegneten wir uns nach Jahren zufällig in einem Buchladen in Bern. Ich blätterte in Benoîte Groults Roman „Salz auf unserer Haut“ als jemand hinter mir eine Bemerkung machte: „Das sollte man leben, nicht lesen“. Ich drehte mich erstaunt um und sah mitten in Odettes grüne lachende Augen. Von da an trafen wir uns wieder öfter, und dann vor drei Monaten sagte mir Odette, dass sie den Sommer auf der Alp verbringen werde. Allein, als Auszeit oder als Experiment, wie ich wolle. Sie brauche Zeit für sich, Zeit um zu spüren, dass sie lebe. Aber ich solle sie doch besuchen kommen, eine Weile mit ihr leben, sie werde mir die Anschrift schreiben.

Diesen Brief habe ich in der Tasche, er beschreibt mir den Weg, sagt komm vorbei, unverbindlich und doch bestimmt, als wolle er mir nicht nur den Weg zu dieser Hütte oben auf der Alp weisen. Die Hütte kommt langsam näher, ich kann bereits eine Tür und ein offenes Fenster erkennen. Nun so kurz vor dem Ziel zögere ich, frage mich, weshalb ich hergekommen bin, was ich drei lange Wochen hier oben will. Die Höhe macht mir Angst und die Berge erscheinen mir wie fremde Riesen. Odette war in jungen Jahren ein gute Freundin gewesen, nun aber in den letzten Jahren waren wir uns nicht wieder wirklich nahe gekommen. Was wollten wir zusammen machen in dieser fremden wuchtigen Landschaft? Noch einmal beruhigt mich der Gedanke, dass ich jederzeit umkehren, heimkehren kann. Ich schaue auf – und wieder direkt in Odettes Augen. Ich habe sie nicht kommen hören, sie steht etwa 20 Meter von mir entfernt und betrachtet mich. Ihr braunes Haar ist kurz geschnitten, ihr Teint frisch und braungebrannt. Sie trägt ein weites Hemd, fast wie zu früheren Zeiten und verdreckte Jeans. Ich erkenne sie kaum wieder und doch scheint sie mir sonderbar vertraut. Ich weiss nicht was tun, also bleibe ich einfach stehen. Sie rennt dafür umso schneller zu mir, umarmt mich, nimmt mir meine Tasche ab und zieht mich zum Haus.

 

Wir sitzen in der Abendsonne, eine Decke um die Schultern und nippen an dem Wein, den ich mitgebracht habe. “Zum Glück hast du durchgehalten und deinen Proviant nicht am Wegrand verstreut“ lacht Odette mit einem Blick ins Weinglas. Ich nicke nur. Ich bin müde. Odette hat mir das Haus gezeigt und die Tiere, dann haben wir etwas gegessen und uns vors Haus gesetzt. Wir sprechen nicht viel zusammen. „Weisst du, wenn man lang allein ist, verlernt man das Sprechen, man erschrickt, wenn man die eigene Stimme hört“, erklärt mir Odette. Ich bin müde. Gleich würde ich mich ins Bett legen und ganz lang und ganz tief schlafen.

 

Mitten in der Nacht schrecke ich hoch. Es ist stockdunkel und totenstill. Ich wage mich nicht zu rühren, ich spüre nur das Klopfen meines Herzens. Ich habe geträumt, aber ich kann mich nicht erinnern. Eine seltsame Unruhe erfasst mich, ich ziehe die Decke über meinen Kopf und versuche wieder einzuschlafen. Es gelingt mir nicht, mein Herz rast. Ich stehe auf und taste mich zur Tür. Draussen dämmert schon der Morgen. Die Berge ringsum liegen noch tief im Schatten und ragen abweisend in die Höhe. Ich fühle mich fremd und eingeschlossen. Ich friere, da legt sich plötzlich eine Decke über meine Schultern. Odette steht hinter mir. „Den Morgen liebe ich am meisten hier“, flüstert sie. „Die Bergkobolde legen sich schlafen und die Morgenfeen läuten den Tag ein“. Ich sehe sie verständnislos an. „Du musst noch ein paar Tage warten, dann fühlst du es auch, bestimmt“, lächelt sie, „komm ich mache uns Kaffee, der Tag beginnt bald“. Ich lasse mich in die Küche führen und setze mich an den Tisch, während sie am Herd zu hantieren beginnt. Als wäre es das Alltäglichste der Welt, macht sie Feuer im Ofen, legt Scheite auf und bläst in die züngelnden Flammen. Ich begreife, dass es das Alltäglichste der Welt ist für sie. Es hat weder Strom, noch heisses Wasser im Haus, doch ihr scheint nichts zu fehlen, oder sie hat sich bereits daran gewöhnt. Mir fehlt plötzlich das Radio, die morgendliche Muntermachersendung von Canal 3, und der Wecker, der nicht losgegangen ist. Auch die Zeitung liegt nicht im Briefkasten. Hier könnte die Welt untergehen und wir würden es nicht bemerken. Ich sage es Odette. Sie lacht:“ja und? Deswegen bin ich hier“.

 

Später steigen wir zum See hinunter und setzen uns ans Ufer. Odette beginnt zu erzählen. „Ich bin nun sechs Wochen hier – allein. Viele Dinge verlieren ihre Wichtigkeit. Ich weiss eigentlich gar nicht mehr, was wichtig ist. Ich denke es sind die kleinen Sachen, die gegenwärtigen. Jetzt ist für mich wichtig, dass du da bist.“ „Vielleicht hast du recht“, ich lege mich ins Gras und denke nach. Wir schweigen lange Zeit. Über uns kreist ein Vogel. „Ein Adler, ein wundervolles Tier, er fliegt bis zu den Sternen,“ sagt Odette leise. „Langweilst du dich nicht hier?“ frag ich Odette nach einer Weile. „Weshalb sollte ich mich langweilen? Dies hier, das ist geschenkte Zeit, das ist meine Welt, hier kann ich atmen, leben, sein. Hier muss ich keine Formulare ausfüllen, verpasse keinen Bus und klingelt kein Telefon“. „Läufst du vor etwas davon?“ frage ich. Sie sieht mich erstaunt an und murmelt schliesslich „nein zu etwas hin“. „Komm lass uns Heidelbeeren suchen.“ Sie springt auf und zieht mich mit. Ich blinzle und komme mir irgendwie vor, wie im falschen Film. Spielen wir Heidi, frage ich mich und laufe Odette kopfschüttelnd nach.

 

Am vierten Morgen erwache ich ausgeruht und zufrieden. Ich schlurfe in die Küche, versuche Feuer zu machen und freue mich am Leben. Die Stille beunruhigt mich nicht mehr, und die majestätisch aufragenden Berge flössen mir keine Furcht mehr ein. Ich bin in die Bergwelt eingetaucht. Ich lasse mich treiben vom Rhythmus der Natur. Wir suchen Heidelbeeren, melken die Ziegen, backen Brot und diskutieren über Himmel und Erde. Odette spürt die Veränderung auch, die mit mir vorgeht. Manchmal wenn sie glaubt ich merke es nicht, sieht sie mich schelmisch von der Seite an. Wir gewöhnen uns aneinander und bald kommt es uns vor, als hätten wir immer schon zusammen hier oben gelebt. Die Welt jenseits des Berges erscheint unendlich fern, ja inexistent. Mein Schreibtisch voller Akten, der sonst meinem Leben einen Sinn verleiht, verliert seine Bedeutung. Wozu all das Papier, all die Verträge und Bestimmungen, um das Leben fremder Menschen zu regeln? Was für Sorgen um all die Dinge, auf die ich hier auf dem Berg so gut verzichten kann? Ich erzähle es Odette, sie sieht mich lange an, zögert als wolle sie etwas sagen, meint dann aber nur: “Siehts du“. Dann nimmt sie mich an der Hand und führt mich vors Haus. Sie zeigt mit einer ausladenden Geste auf die Berge, legt mir den Arm um die Schulter und sagt noch einmal „Siehts du, das ist die Welt, das ist unsere Welt. Ich glaube ich könnte hier bleiben, für immer. Ich brauche die komplizierten Beziehungen, die Kompromisse, die Rücksichten und die Verletzungen nicht mehr mit denen sich die Menschen da unten im Tal abgeben. Hier oben kann die Seele fliegen, kann ich atmen. Ich glaube du verstehst das, du könntest vielleicht sogar mit mir hier leben.“ Sie sieht mich an und streicht mir sanft eine Strähne aus dem Gesicht. Ich löse mich aus ihrem Arm und schaue sie überrascht an. Die Intensität ihrer Worte hallt in mir nach, ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll. Sie strahlt eine seltsame Entschlossenheit aus, wirkt gleichzeitig zerbrechlich und wild und sehr weiblich. Ich bin erstaunt über ihre Wirkung auf mich und verunsichert. „Lass uns an den See gehen“, schlage ich ihr vor und hole meine Jacke im Haus. Eine Weile gehen wir schweigend nebeneinander her. Am Himmel jagen sich grosse Wolken, der Wind bläst sie unaufhaltsam nach Osten, doch die Sonne scheint recht warm. „Meinst du, dass man im See baden kann?“, unterbreche ich das Schweigen. Ich suche unbewusst vertrauten Boden, etwas aus meiner Welt. Doch Odette lacht mich aus. „Die Schneeschmelze ist noch nicht vorbei, das Wasser wird eiskalt sein.“ Ihr Lachen bricht das Eis, sie nimmt mich wieder bei der Hand und gemeinsam rennen wir die letzten Meter an den See. Ich ziehe die Schuhe und Strümpfe aus und halte vorsichtig einen Zeh ins Wasser. Aber Odette hat recht, es ist eiskalt. Ich lasse mich enttäuscht ins Gras fallen. „Du wirst dich daran gewöhnen, wir sind hier auf dem Berg und nicht am Meer. Aber wir sind hier auch dem Himmel näher.“ Wie als Antwort ertönt ein Grollen aus der Ferne. Der Himmel hat sich unmerklich bezogen. Es ist

kühler geworden und der Wind zieht stärker. Wir machen uns auf den Heimweg, steigen rasch den Weg zur Hütte hoch, verfolgt vom lauter werdenden Donner. Wir sind erst auf halbem Weg, als die ersten Tropfen fallen. „Heute ist Duschtag“, ruft Odette und geht schneller. Noch bevor sie das Haus erreicht hat, beginnt sie sich auszuziehen und tanzt durch den nun strömenden Regen. „Ist das nicht wundervoll?“ jauchzt sie. Ich will den Kopf schütteln, doch ohne es mir bewusst zu sein, habe ich begonnen mich auch auszuziehen. Splitternackt und klitschnass führen wir einen Indianertanz auf und schütten uns aus vor Lachen bis wir vor Kälte schlottern und die Lippen blau anlaufen. Wir gehen ins Haus und trocknen uns ab. Ich nehme Odette das Frottiertuch aus der Hand, wickle sie hinein und reibe ihr den Rücken. Da beginnt sie plötzlich zu weinen, fällt in ein Schluchzen und klammert sich an mich. Ich halte sie fest. Sie weint, wir schweigen. Sie wird ruhiger, der Donner zieht ab, langsam wird es dunkel. Ich weiss nicht wie lange wir so gestanden haben. Es scheint mir eine Ewigkeit, es scheint mir ein Traum und gleichzeitig kann nur das Leben so intensiv sein.

 

Am nächsten Morgen weckt mich die Sonne. Ich fühle mich verwirrt, lebendig neugierig. Aus der Küche weht Kaffeeduft und ich laufe hinüber. Odette lächelt mich an, hält mir einen Kaffee hin. Sie ist gleichzeitig die alte und doch ganz verändert. Wir konzentrieren wir uns auf die Arbeit. Odette backt Brot, ich mache Apfelschnitze ein. Wir reden wenig. Spannung knistert in der Luft. Wir sind uns am Tag zuvor so nahe gekommen sind wie noch nie. Sie fasziniert mich, sie zieht mich an, aber sie macht mir auch Angst. Ich mache Urlaub bei ihr, vielleicht auch Urlaub von meinem Leben jenseits des Berges. Odette aber lebt hier, sie will kein anders Leben mehr – oder hat sie kein anderes Leben mehr? Ist das wichtig? Ich beschliesse nein, vorerst nicht, ich habe noch zwei Wochen, zwei Wochen um mich von Odette und der Natur treiben zu lassen. Nachdenken kann ich später. Odette scheint derselben Meinung. Sie knetet den Brotteig, stellt ihn dann neben den Ofen, damit er aufgehen. Unsere Stimmung lockert sich. Es ist als kehre mit den alltäglichen Verrichtungen der Alltag ein.

 

So verbringen wir auch die nächsten Tage. Odette lehrt mich Tee brauen aus allen möglichen Kräutern, die wir auf den Alpwiesen finden. Wir machen lange Spaziergänge und Odette erzählt von ihren Träumen. Aber sie erzählt nie aus ihrer jüngsten Vergangenheit. Wir erzählen uns all die „weißt du noch...“-Geschichten aus unserer Jugend. Aber all die Jahre, die wir uns nicht gesehen haben, enthüllt sie mit keinem Wort. Eines Tages spreche ich sie darauf an. „Das ist nicht wichtig, das ist vorbei“, ist alles, was sie dazu sagt. Ihr Ton ist dabei so endgültig, dass ich sie nicht dränge. Die Tage vergehen in gleichmässiger Harmonie, wir haben uns kleine Gewohnheiten zugelegt. Am Abend sitzen wir vor dem Haus, eine Decke um die Schultern und holen uns eine Gutnachtgeschichte von einem Stern. Wenn es bewölkt ist, sitzen wir ans Feuer und entlocken den tanzenden Flammen ein Lied. Am Morgen kocht Odette Kaffee, ich hole nach dem Frühstück die Eier aus dem Hühnerstall. Danach entscheiden wir gemeinsam was ansteht. Die Routine, die Ruhe und die kleine abgeschlossene Welt lullen mich ein, die Zeit verstreicht. Ich fühle mich gut und ich glaube Odette auch.

 

Bis zum Tag vor meiner geplanten Abreise – vor der von mir geplanten Abreise. Ich spreche Odette beim Frühstück darauf an. „Meine Zeit ist um, die Zivilisation ruft mich“. Odette verschüttet den Kaffee und schaut mich an. „Ich weiss, dass du bei mir bleibst – und du weißt es auch. Weshalb sagst du so etwas?“. „Du irrst dich, Odette, ich bin kein Bergmensch, ich muss zurück“. Sie steht auf und geht aus dem Haus. Ich bleibe am Tisch sitzen, bin mir nicht sicher, ob ich ihr folgen soll. Als ich es dann tun will, ist sie verschwunden. Sie bleibt den ganzen Tag weg. Ich räume auf, packe meine Sachen, beschäftige mich mit allem, was mir in die Hände fällt, um meine steigende Beunruhigung zu verbergen. Schliesslich setze ich mich vor das Haus und warte. Endlich im letzten Abendlicht sehe ich sie den Berg hinunter steigen, einen Strauss Kräuter in der Hand. Sie kommt auf mich zu, lächelt mich an, als wäre nichts gewesen. Dann beugt sie sich zu mir hinunter, küsst mich leicht auf die Wange: „Es wird alles gut“, sagt sie und geht ins Haus. Wir essen zu Abend und unterhalten uns über Belangloses, bis sie innehält, mich anschaut und sagt:“ Lass uns noch eine letzte Geschichte von den Sternen holen“. Sie geht zum Herd und übergiesst die Kräuter, die sie mitgebracht hat mit heissem Wasser. Dann füllt sie einen Becher mit dem Tee, reicht ihn mir und führt mich hinaus in die Dunkelheit. Wir sitzen nebeneinander unter der Decke und schauen zu den Sternen. Leise beginnt Odette zu sprechen:“ Sieh dort den hellen Stern, dort wohnt mein Vater.“ Ich höre Odette zu und trinke langsam meinen Becher leer. Odette trinkt nicht, sie erzählt weiter: “Daneben, das ist der Stern meiner Grossmutter.“ Ich fühle mich müde und lehne mich gegen Odette. Sie legt mir einen Arm um die Schulter und streicht mir übers Haar. Ich werde immer müder und sinke in ihren Arm. Ihre Stimme kommt von weit her. Ich habe das Gefühl zu fliegen. Das letzte, was ich höre, ist Odettes leise schmeichelnde Stimme:“...und dort Stephanie ist dein Stern, bald wohnst du dort und bald wirst du mich jeden Abend besuchen - du verlässt mich nicht.“